Entjungferung am Lustgarten

Zu Beginn möchte ich mich bei meinen Lesern entschuldigen.
Bei meinen sich nach Lektüre verzehrenden Lesern besonders.
Warum hat sich der nach Lektüre verzehrenden Leser, denn nicht gemeldet?
Es hätte doch eine Anfrage gereicht? Nicht, dass ich deswegen geschrieben hätte,
doch es wäre ein Zeichen an mich gewesen, dass sich irgend jemand Gedanken machte…

Vielleicht in der Art:
< Ich lese gar nichts mehr von Dir, geht’s Dir gut? Noch alles klar mit Deiner Traumfrau? Was ist passiert, weswegen Du Deinen blog nicht mehr fütterst?>

Aber nein, ich muss diese Fragen sch(m)erzheischend selbst formulieren.
Adonis, es ist noch alles klar!
Und ich freue mich, dies frei und rundheraus an Dich richten zu dürfen.

Nach so langer Schreibpause, die nicht in einer so überaus beanspruchten Schreibblockade fußte, nein schlichtweg an Zeitmangel lag, wie etwa Reisen von Ost nach West und retour, Zweisamkeit und überhaupt immer etwas zu tun, muss ich dennoch wieder üben.
Üben, ob ich wieder einen klaren Gedanken formulieren kann.

Dies will ich über das Thema Marathon und die Oberpfarr- und Domkirche zu Berlin entwickeln.
Auf den ersten Blick, passen diese Themen nicht zusammen. Auch auf den Zweiten nicht.
Die beiden Ereignisse, Berlin Marathon und mein erster Dombesuch, fanden schlichtweg am selben Tag, dem 28.September, statt.

Der Marathon war wie üblich bestens organisiert. Den Tiergarten sperrte man bereits zwei Wochen vor dem Ereignis großflächig und überwiegend ab. Zur Freude von Visit Berlin, der berlineigenen Berlin-Vermarktungsgesellschaft, wuchs das Marathon-Fieber von Tag zu Tag. Denn das Großereignis würde mal wieder mehr Geld als letztes Jahr in die berlineigenen und Hotelkassen spülen.

Der typische Bewohner, der an der Strecke wohnt, kann sich freuen, wenn er Marathon-Fan ist, wenn er dies jedoch nur bedingt ist, ja dann hat er ein großes Lärmproblem.
Unter meiner Behausung formierte sich doch tatsächlich eine Trommelgruppe von locker fünfzehn Mann, die recht pünktlich, bereits um 9:19h!, zur Durchfahrt der Handbiker bei Kilometer 35/36 zu lärmen begannen.

links, die Gruppe
links, die Gruppe

Sogar das Telefonieren war mir im dritten Stock auf der Südseite verwehrt. Zusätzlich dazu, war die Nacht bis hierhin sowieso recht kurz, was die Reizschwelle in solchen Momenten erheblich herabsenkt.
Nein, sie hatte kein Erbarmen mit mir und ich war mir plötzlich ganz sicher, dass diese Trommler nicht wegen der Sportler-Unterstützung an dieser Stellen positioniert waren, sondern allein, um mich zu ärgern!
Die hielten das bestimmt, bis der letzte Läufer durch war, ca. drei Uhr. So verließ ich meine Heimstatt lieber gegen halb zwei, mit zwei geschmierten Stullen für’s Radeln, um zu meiner Entjungferung zu gelangen.

Das Gute an kundigen Stadtführern, ist ja deren Ortskenntnis, und so konnte ich Wege zum Lustgarten wählen, die vom großen Aufruhr nicht betroffen waren. Geschickt umschiffte ich die prekären Punkte, um dann doch noch auf die Linden einzubiegen.
Natürlich war die ebenfalls gesperrt, doch da lief momentan keiner.
Denn die Kenianer und Ghanaer und Superschnellen waren schon lange beim Ruhen.
Und das große Feld wollte den Zieleinlauf erst noch erreichen.
Also hatte ich, mit einigen anderen Regelbrechern, das erhebende Vergnügen, den Boulevard ohne Verkehr entlang zu cruisen.

Mein lieber Freund J wartete bereits auf den Stufen der Oberpfarrkirche. Ein Sonnenanbeter vor dem Herrn. Kaiserwetter zum Besuch der Kaiserkirche, die Wilhelm II ja als Kaiser auch erbauen ließ.
Allerdings hatte mein Magen ungünstig wenig zu sich genommen.
Zwei Stullen während des Radelns.
Zeitersparnis ist eben alles, wenn die Sonne zur Aktivität ruft.

Also ein Besuch unter Kohldampf!
Und es standen uns über 267 Stufen bevor. In dieser Kirche bevor.
Abgesehen von 100 Sarkophagen im Keller. Der Hunger wuchs allein schon beim Gedanken daran.

Aber genau dies hat mich am Einschlafen während des folgenden Vortrags gehindert. Kurz entschlossen und überaus passgenau, durften wir einer Domerklärerin lauschen, die sehr Wissenswertes zum Dom preiszugeben hatte. Aber auch die Nacken der Zuhörer strapazierte, indem sie immer wieder auf Kunst, Skulpturen und Reliefs deutete, die sich rund um und in der 70 Meter hohen Kuppel befinden. Ein erstes vernehmliches Knurren! Schon jetzt?

Der Aufstieg startete nach dem Abstieg zur Toilette im Keller. Nicht besonders clever, 30 Stufen zusätzlich zu bewältigen. Aber wenn schon, dann eben alle auf einmal. Die Wände der verwinkelten, engen Treppenaufgänge, die Flure zwischen Innen- und Außenhaut der Kuppel, sie alle waren bestückt mit Aufnahmen vom Wiederaufbau ab 1977 – men at work,
der zum allergrößten Teil vom Westen finanziert wurde.

Der Dom war im Begriff abzusaufen. Nein, nicht im Hochwasser. Die Spree hat solche Schwankungen nicht, obwohl die ein oder andere Hohenzollernleiche doch schon in der Spree gebadet hatte. Nein, von oben. Eine Fliegerbombe hatte die Kuppel 1944 geöffnet. Es regnete hinein. Und ein paar Clevere holten Einiges heraus. Ziemlich viele Orgelpfeifen beispielsweise.
Ein Plastikplane schütze den Dom ab 1946 zwar, konnte aber nicht verhindern, dass sich Gottes dicke Tränen nicht doch einen Weg ins Innere bahnten.

Er wurde von innen zerfressen. Oben, empfing uns dann aber strahlender Sonnenschein und eine fantastische Aussicht auf Berlin mit seinen in Mitte positionierten Baukränen.
Belohnung für des Aufstiegs Mühsal unter Treibstoffmangel.

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Doch sogar der Fernsehturm zeigte sich beglückt, ob unseren Erscheinens. Man hatte den Eindruck, er wackelte vor Freude. Vielleicht hat jemand seinen eins Komma fünf Tonnen Pendel angeschubst? Der link auf die Turm-webcam muss der Leser unbedingt ansehen.
Pure Freude der Bewegung. Auf den Panoramabildern, mein just für diesen Tag neu entdecktes Spielzeug, ist vieles zu erkennen, das bekannt sein müsste. Neu jedoch ist die Ansicht der Schlossbaustelle von oben. Eindrucksvoll, wie schnell die sind. Samstagsarbeit seit Juni 2013. Manchmal hat man wirklich den Eindruck, es könnte doch in der geplanten Zeit von statten gehen. Nur leider bei den falschen Projekten.

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Hunger!! Doch vor dem Stillen, lagen noch zwei Sationen, Und der Besuch des kleinen Dommuseums, wo all die Vorgänger des heutigen Doms in Bildern und riesigen 1:50 Modellen ausgestellt sind, war die erste davon.
Ein Muss, wie ich vernahm, und meine Ehrerweisung an J. Wenn schon drin, dann muss man auch alles einmal gesehen haben.

Der Hunger wurde langsam unerbittlich!!! Doch waren wir immer noch nicht im Reich der Toten. Da musste ich wohl noch knurrend hindurch!

In der Hohenzollerngruft warten noch die Sarkophage, die die Bombe nicht erreicht hatte.
Doch handelt es sich hier eher um ein Museum; ein Gruftgefühl konnte ich nicht erhaschen. Weder ist es feucht, noch kalt, noch gruselig. Weiß getüncht, mit Hygrometern versehen und mit den Exponaten auf Holzsockeln, ist man hier auf der sicheren Seite, dass die Zinksarkophage nicht noch weiter zerbröseln.
Ganz Kurze, sehr Verzierte, sogar Namenlose sind dabei. Die Kindersterblichkeit war auch unter Fürsten, Königen und Kaisern höher als von mir vermutet.
Die Prinzen und Prinzessinnen starben so schnell, dass sie nicht mal getauft werden konnten.

Huuuunger!!!! Diese für mich unerträgliche Situation, blockierte all mein Denken.
Endlich wieder an der Sonne, konnte ich mein Verhandlungsgeschick unter Beweis stellen
und wir entschieden, meinen Drang nach dieser anstrengenden, dreistündigen, kirchlichen Entjungferung bei meinem Lieblingsvietnamesen zu stillen.